Bruckner - eine kleine Einführung
Das Finale der 9ten Symphonie - Bruckners Leben und Werk (in weniger als 1000 Worten)

Wie ein Stein vom Mond sei Bruckner in die Romantik gefallen , sagt Nikolaus Harnoncourt (einer der großen zeitgenössischen Dirigenten). Tatsächlich: Bruckner ist mit keinem Komponisten vor oder nach ihm zu vergleichen (obschon natürlich Bruckners Schüler und ihn verehrende Komponisten ihm klanglich/kompositorisch 'nahestehen' und Bruckner selbst natürlich auch nicht unbeeinflusst von, beispielsweise, Wagner und Ludwig van Beethoven war). Die (symphonische) Linie seit der Wiener Klassik von Haydn über Mozart, dann maßgeblich Beethoven bis hin zur Romantik, wirken alle wie eine 'Entwicklung' (Nein: Nicht im Sinne von "Verbesserung", denn schon Bach ist allermöglichste Vollendung). Bruckner passt jedoch kaum in das (Klang-, Melodie- und Harmonie-) Schema. Obgleich er sich den gleichen Regeln unterwirft: So studierte er etwa den "traditionellen" barocken Kontrapunkt und Komposition, kreierte stets 4-ß-ige Symphonien. Traditionelle, absolute Musik. Doch Bruckners Symphonik ist vollkommen eigen. Speziell die Symphonien sind ein in sich geschlossenes, und nach außen wirkend quasi "isoliertes" Oeuvre. Seine Werke, von den ersten Symphonien bis zu den beiden symphonischen Schlußwerken, die absolute Gipfelpunkte der Symphonik bilden, könnte fast eine eigene Stilrichtung definieren...







Gipfelpunkte Bruckner Symphonien?



Im Himalaya der "klassischen" Symphonie gibt es so einige impochale Highlights... Sagen wir mal die 9. von Beethoven sei der Mount Everest, dann ist die 9. Bruckners der K2 und die 6. Tschaikowskys ist der Nanga Parbat. So seltsam (und minderwertigkeitskomplexzerfressen...) Bruckner als private Person war, so genial und übergroß waren seine musikalischen Ideen und Umsetzungen. Allein nur das Scherzo der 9. Symphonie ist wegweisend für die nachfolgende (klassische) Musik ohne dabei "bemüht" innovativ zu klingen: Expressiv, neu, nie dagewesen.


Die 9. Sympone und das Finale



Insbesondere die 9. Symphonie hat in Bruckner Schaffen eine besondere Stellung, weil sie (vermutlich) unvollendet blieb...Aber was heißt unvollendet? Anders als die berühmte - auch so titulierte - Unvollendete von Schubert (h-moll) oder Beethovens 10. Symphonie, ist der gewaltige Finalsatz der 9ten nahezu fertig komponiert worden. Aber obgleich dies so ist (!), gab es erst sehr spät Rekonstruktionen/Fertigstellungen des Finalsatzes. Dies verwundert, weil es gerade bei Bruckners Kompositionsmethodik möglich ist - oder besser: Weniger schwierig als bei anderen Großmeistern - eine solche Synthese zu wagen. Andere Torsos - wie etwa Mozarts Requiem, das weit weniger fortgeschritten komponiert war als das Finale der IX. Symphonie Bruckners und oft genug noch ohne den Hinweis auf den "echten" Komponisten (meist ist es eine Komposition von Süßmayr, einem Schüler Mozarts) - werden meist komplettiert aufgeführt und man hört quasi nie irgendwelches "Geschwafel" über die Rekonstruktion. Heute ist insbesondere die vorzügliche Aufführungsfassung von Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca (abgekürzt als SPCM) in höchstem Maße zu empfehlen. Die verschienden Versionen dieses
work in progress wurde 1984 noch recht spröde begonnen und wurde 2008 als im Wesentlichen abgeschlossen erklärt. Doch auch weitere Korrekturen wurde seitdem vorgenommen, zuletzt 2011. Für den normalen Hörer spielen diese Unterschiede nicht die große Rolle: Das Finale klingt seit der 1992er-Version bereits als hervoragend klingender Abschlusssatz! 1984 fand in Frankfurt die Welturaufführung mit dem RSO Frankfurt unter Inbal statt (erschienen ist die Aufnahme bei Teldec). Diese erste Aufführungsfassung wurde seitdem in Details - etwa wenn Skizzen, Particelle oder ganze Bögen wiedergefunden werden, was per se ähnlich spektakul&är ist, wie bei den kürzlich in Australien gefunden Beatles-Memorabilien mit diversen Ton-Aufnahmen - weiterentwickelt und ist ist in fast allen Versionen auf CDs erhältlich. Dazu mehr im hinteren Teil. M.E. sind alle Aufführungsfassungen seit 1992 von derart hoher "Bruckner-Authentizität", dass es eigentlich keine aufgeführte Rumpfversionen mehr geben sollte... Ich persönlich empfinde eine 3-sätzige Darbietung jedenfalls als genauso unfertig, wie wenn ich Beethoven Symphonien nach dem 2. oder 3. Satz nicht weiterhören könnte. (Das passiert faktisch natürlich nur, wenn man dies privat auf Stereoanlagen hört und etwas 'dazwischen' kommt... Man stelle sich vor, ein Konzert spielt Mozarts Requiem oder Puccinis Turandot fragmentiert. Ca va sans dire. Selbst Elgars 3. Symphonie, Tchaikowskys 3. Klavierkonzert (resp. seine 7. Symphonie) sind, allerdings mit einem hohem Spekulationsgrad der Rekonstrukteure (also wenig authentisch, vervollständigt worden. Auch Mahlers 10. Symphonie - weniger fortgeschritten komponiert als Bruckners Finalsatz, sprich mit erheblich mehr Lücken hinterlassen - wird mittlerweile überwiegend in "nachkomponierten" Fassungen aufgeführt (die bekannteste ist jene Komplettierung von Cooke, daneben haben aber auch die Komponisten Samale/Mazzuca, Wheeler, Carpenter und Gamzou respektable, schöne Lösungen präsentiert). Und schließlich Beethoven? Und selbst Beethovens 10. Symphonie (besser: dessen grob anskizzierte Kopfsatz) ist in einigen Aufführungs-Versionen versucht worden und sogar auf Tonträgern veröffentlicht worden (m.E. allerdings in sehr unbefriedigender Weise, was darauf schließen lässt, dass wohl kaum verwertbare Materialen vorhanden sind, die einen "echten" Beethoven erkennen lassen!).






Zwischenfazit



Der Sinn von Rekonstruktionen ist m.E. sicherlich berechtigt bei Kompositionen von verworfenen Skizzen zu diskutieren. Nicht aber, wenn der Komponist durch den Tod inmitten eines Vollendungsprozesses an der beabsichtigten Fertigstellung gehindert wurde. Die Frage ist m.E. in solchen Fällen also nur, mit welcher Kunstfertigkeit und musikwissenschaftlicher ausgefeilter Synthese eine Komplettierung geschaffen wird!

Was heißt eigentlich unvollendet?



Peter Gölke, u.a. ein Musikwissenschaftler, bemerkt zurecht, dass die englische Bezeichnung von Werken, die keinen Abschluß durch den Komponisten fanden, mit "Unfinished" (also unbeendet) was sprachlich etwas treffender ist, als die Bezeichnung "Unvollendet". Richtig ist: Die ersten drei Sätze der 9. Symphonie Bruckners sind vollendet. Auch das Adagio der 4. Symphonie Bruckners ist vollendet! Und die ersten 25 Takte der 6. Symphonie sind es, beispielsweise, auch! Aber auch die auskomponierten Finale-Partiturteile muss man schlechterdings als phantastsich bezeichnen. Sie sind in einem Wort: Vollendet. Die 9. Symphonie ist also in diesem Sinne "vollendet". Aber Sie wurde eben nicht von Bruckner selbst "beendet", nicht "abgeschlossen" (zumindest anhand der derzeit bekannten Notentexte nicht). Und "vollendet" ist m.E. auch die Aufführungsfassung von SPMC.
Gleichwohl die Autoren, stets der aktuellen Forschung; gemäß, mehrfach Revisionen ihrer eigenen Rekonstruktion vorlegten, was den Verdacht zuließe, man sei selbst nicht von dem bisher geleisteten überzeugt. Hier möge man aber den gleichen Maßstab auch bei den Originalgenies wie Beethoven und Bruckner anlegen, die ihre Werke im Schaffensprozess häufig korrigierten, veränderten und neu fassten. Anyway: Die Aufführungsfassungen sind vollendet 'schön' ...und deshalb setzen sich nachvollziehbar viele Bewunderer der Musik Bruckners - und im speziellen die Bewunderer der fulminaten 9. Symphonie - dafür ein, dass dieses Finale ein kategorisches Muß als Abschluß dieses Meisterwerks der Symphonik wird.

Sie ist akribisch wissenschaftlich auskomponiert, ergänzt und komplettiert und dabei eben auch künstlerisch und klangästhetisch au&ßerordentlich wertvoll. Sie wurde "vollendet" beendet - von den Fragmenten zum kompletten Satz. Gut so!

Es besteht Hoffnung, dass sich dereinst auch sog. "Hype-Maestros" davon überzeugen lassen. Nicht etwa, weil sie unbedingt hochwertigere Dirigate leisten als weniger prominente Dirigenten, sondern vor allem wegen deren medialer Signalwirkung. Stardirigenten, die (derzeit noch) einen Bogen um die Aufführungsfassungen des Finales machen. Derzeit ist es zu oft anders: Leider erlauben sich gerade medienprominente Dirigenten die schier unglaubliche Begründung, dass Bruckner bei der Erstellung des Finales debil gewesen sei und deshalb die Final-Fragmente nicht zu berücksichtigen seien. Oder aber sie manifestieren die beliebten Legende, die Symphonie hätte mit dem Adagio bereits einen idealen Schlußpunkt (weil Bruckner die lapidare Bemerkung Abschied vom Leben "zuu dem Adagion" notierte). Es sind allesamt dümmliche oder diffamierende Notargumente!! Fakt ist: Bruckner hatte stets 4-sätzige Symphonien verwirklicht! Und die Frage altermäßigen geistigen Unzurechnungsfähigkeit ist indiskutabel - denn dann ließe sich womöglich zu fast jedem Komponisten derartiges diskutieren... . NB: Man muss das Finale sicher nicht mögen, auch nicht die Torso-Neunte oder die Musik Bruckners insgesamt. Aber Unwahrheiten sollten bitteschön keine Begründung sein, um einen Rumpf quasi als "vollendet verdedelten Spitzenkaffee" zu bezeichnen.

Zu guter letzt



Manchmal wird kolportiert, dass dieses Finale eben nicht 100%-ig Bruckner. Dazu einmal folgender (nicht ganz ernst gemeinter) Vorschlag. Man stelle sich doch einfach vor, dass man Bruckners 9. Symphonie mit den Sätzen hört:

1 Feierlich, Misterioso
2 Scherzo: Bewegt, lebhaft - Trio: Schnell - Scherzo
3 Adagio: Langsam, feierlich

Und anschließend höre man, ohne Unterbrechung, als eine Zugabe den symphonischen Satz des Komponisten-Teams Samale, Phillips, Mazzuca und Cohrs mit der Bezeichnung:
Finale Misterioso , nicht schnell (also nicht, wie üblich Finale der Neunten Symphonie von Anton Bruckner in der Rekonstuktion von...) Ich bin ziemlich sicher, dass die überwältigende Mehrheit dies dann sinngemäß in etwa so kommentieren würde: Diese Zugabe... ich weiß nicht - Das Werk hört sich aber sehr, sehr stark nach Bruckner an. Das ist ein Plagiat des Finales! Oder man stelle sich mal vor, es würde gar so veröffentlicht? Welchen Proteststurm dann die gleichen, oft negativ eingestellten Musik-Kritiker losbrechen, die aktuell eine Rekonstruktion ablehnen, weil sie vernagelt sind: Das ist ein 100%-iges Bruckner-Plagiat oder SPCM imitieren Bruckner exakt. Sie kopieren Bruckner, dass es nur so brucknert. Da ist rein gar nichts originäres, nichts eigen orginelles. Es ist einfach nur Bruckner und womöglich schließlich: Es ist leider zu vermuten, das die sog. Komponisten SPCM im Besitze des gesamten verschollenen Finalsatzes von Bruckners 9. Symphonie sind und diese bösen Buben diese vorzügliche, vollendete - ja: geniale und höchstpunktmarkierende - Musik Bruckners als Ihre eigene verkaufen Beati pauperes spiritu... NB. In einer CD-Veröffentlichung von Warner der 9.ten Symphonie fehlt - editorisch ein krasser Fauxpas! - jeder Hinweis auf eine Rekonstruktion. Hier wurde die Symphonie schlicht 4-sätzig herausgegeben. Dies ist sozusagen die Umkehrung meines provokanten Vorschlags, weil hier weniger informierten Käufern schlicht vorgegaukelt wird, es handle sich um eine ganz normale Symphonie. Allerdings bin ich überzeugt, dass sich die wenigsten Ersthö;rer über einen seltsam klingenden vierten Satz wundern oder gar beschweren... Fazit eines begeisterten Anhängers: Die Symphonie ist beendet. Ego locutus, causa finita!

Aufführungen der rekonstruierten Neunten



Seit 2005 bis Ende 2011 (letzte Aktualisierung dieser Seite: 1.8.2011) hat es mittlerweile etliche Aufführungen der vollendeten Neunten gegeben. In London, Stockholm und in vielen Städten Deutschlands fanden hervorragende Konzerte statt, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden. Einige davon wurden im Radio übertragen oder sind auf CD erschienden. Dies ist eine sehr zu begrüßende Entwicklung. Zumal die durchweg guten Interpretationen mitterweile ermöglichen, Torso-Veröffentlichungen weitgehend zu vermeiden (Überspitzt gesagt, haben Rumpf-Versionen nur noch eine ähnliche Bedeutung wie Klassik-Sampler, auf denen eingängige Kopfstütze verschiedener Symphonien kompiliert werden. Und wer die alten Hörgewohnheiten dennoch pflegen mag, kann nach wie vor problemlos nach dem Adagio "STOP" drücken oder den Konzertsaal geräuscharm verlassen ... Eine kleine Auswahl verfügbarer CDs des SPCM-Finales (alle sind gut): 

Inbal/RSO Frankfurt (Erste Version 1984) / Teldec
Layer/Mannheim (Version SPCM SC 2008) / DLF
Eichhorn/Brucknerorchester Linz (Version 1992) / Camerata
Bosch/Aachen (Version SPCM SC 2007) / Corvellio
Wildner/Neue Philharmonie Westphalen (Version SPCM 1992) / Naxos

Vertiefendes und Weiterführendes zu Anton Bruckner



Wesentlich bessere, weil fachlich viel fundiertere, Einführungen und Darstellungen zum Thema Finale der 9. Symphonie, aber auch natürlich zu seinem vollendeten Gesamtwerk und Leben, findet man in den Essays des Musikwissenschaftlers B.-G. Cohrs, der mir einige die Texte zur Veröffentlichung auf dieser Homepage zur Verfügung gestellt hat.

Ferner finden sich auf den nachfolgenden Seiten (Untermenüs) eine Literaturliste sowie interessante Internet-Links (ohne Gewähr).

Und schließlich ist es für tiefergehend Interessierte natürlich auch sinnvoll, die Notentexte/Partituren zu studieren. Sie sind u.a im österreichischen musikwissenschaftlichen Verlag der int. Bruckner-Gesellschaft erschienen und sind beim Musikhaus Doblinger sowie Musikhaus Fröhlich zu beziehen.